Grenzgänge: Tour de Bâle

An einem Sonntag Mitte Mai hat sich bei strahlender Sonne eine Gruppe von etwa 25 Leuten an der Tramhaltestelle St. Louis Grenze in Basel eingefunden, in unmittelbarer Nähe zum französischen Staatsgebiet. Es ist der Startpunkt von «Grenzgänge: Tour de Bâle», eine Initiative mit dem Ziel, in zwei Etappen die rund 28 km lange Stadtgrenze von Basel abzuschreiten. Die Grenzsituation der Schweizer Rheinstadt ist einzigartig: Sie liegt an zwei Staatsgrenzen (Deutschland und Frankreich), der Kantonsgrenze zu Basel-Landschaft und teilt eine Gemeindegrenze mit Riehen. Durch die natürliche Grenze des Rheins ist die Stadt zudem in Gross- und Kleinbasel geteilt.

Sozusagen als Initiationsritual folgen wir der Elsässerstrasse nach Norden, wo der ganze Tross bei der Zollstation die französische Grenze überquert, was bereits zu misstrauischen Blicken bei den Zöllnern führt. Als wir dann unmittelbar danach einen U-Turn machen und auf der anderen Strassenseite wieder in die Schweiz «einreisen», scheint das Misstrauen der Ordnungshüter in Unsicherheit zu kippen. In ihrer Ratlosigkeit lassen sie uns dennoch gewähren und wir setzen unseren Grenzmarsch nach Westen entlang der Schlachthofstrasse fort.

Inspirationen und Vorläufer für diese Rundreise gibt es viele. Von volkstümlichen Ritualen über künstlerische Praktiken, dem Giro di Roma von Stalker vor 30 Jahren bis zur Promenadologie des Soziologen Lucius Burckhardt, der dieses Jahr hundert geworden wäre. In manchen ländlichen Gemeinden findet alljährlich der Banntag statt, ein festliches Ereignis, bei dem die Dorfgemeinschaft die Grenze ihres Wohnortes abschreitet. Das ursprünglich magisch-religiöse Ritual bekam mit der Zeit eine politische Bedeutung, insofern die Wanderung auch dazu diente, die Grenzsteine zu kontrollieren. Die Idee unserer Basler Grenzreise war jedoch nicht eine Wiederbelebung des Banntags, sondern vielmehr die Frage, was eine solches Unterfangen heute bewirken kann. Was passiert mit der Grenze, wenn man sie als Weg uminterpretiert? Und wie sieht die Stadt an ihren Rändern aus?

Drei Regeln hatte ich der Tour vorausgeschickt: 1. Die Grenze gibt den Weg vor, folglich waren wir aufgefordert, so gut es ging direkt auf der Grenzlinie zu spazieren. 2. Grenzsteine werden als Steine des Anstosses umgedeutet, als Gelegenheit der Reflexion. 3. Die Reise endet entweder, wenn wir das St. Jakob erreichen würden (denn dort startete die zweite Tour eine Woche darauf) oder wenn sich die Gruppe vorher auflöst.

Die Tour war zugleich die erste Aktion des Office for Peripatetic Design, eine Art Agentur, die kollektive Aktivierungen und Verhandlungen von Stadtraum anstösst. Der Name ist Programm: Eine Gemeinschaft (Office/Büro), bedient sich des Gehens als Reflexion (peripatetisch) und als Instrument der Gestaltung (Design). Insofern war die Tour keine Führung im konventionellen Sinn, sondern beanspruchte, die kollektive Intelligenz der Gruppe zu aktivieren. Die Teilnehmenden der Reisegemeinschaft waren eingeladen, ihre Eindrücke, Beobachtungen, ihr Wissen unterwegs aktiv einzubringen.

Bereits nach den ersten Metern, die wir zwischen Recycling-Zentrum und Fleischfabrik zurückgelegt haben, wird klar, dass die zweite Regel in einer geradezu akribischen Weise ernst genommen wird. Verantwortlich dafür ist ein ausgewiesener Grenzsteinexperte, der jede noch so versteckte Grenzmarkierung ausfindig machen kann und obendrauf noch eine Anekdote liefert. So ist mancherorts die französisch-schweizerische Grenze mit weissen Kreuzen auf dem Asphalt markiert, offenbar eine Massnahme, um die Zuständigkeiten der unterschiedlichen Polizeien zu regeln, damit sie ihr Gewaltmonopol nicht irrtümlicherweise im falschen Land ausübten.

Was die eigentlichen Grenzsteine anbelangt, können wir erstaunliches lernen von dem Herrn mit dem etwas speziellen Hobby, wie er selbst zugibt. Eine Geschmacksprobe: Grenzsteine sind ein bisschen wie Eisberge; der grösste Teil, nämlich zwei Drittel, sind unsichtbar. Gut Schweizerisch sind sie doppelt abgesichert: Unter jedem Stein befindet sich nämlich eine zusätzliche Grenzmarkierung – für alle Fälle. Ausserdem gibt es auch Situationen, bei denen Grenzsteine nicht direkt auf der Marke positioniert sein dürfen. Bei Bächen sind jeweils zwei Steine von den jeweiligen Hoheitsgebieten am Ufer positioniert, die beide mit einer Zahl versehen sind, die zentimetergenau die Distanz zur Grenze festhält.

Die erste Etappe durchs Grossbasel kann in drei Abschnitte gegliedert werden. Der französische Teil war der kontrastreichste, weil er ausgesprochen urban ist und besonders viele Grenzindikatoren aufweist: Abfallverbrennungsanlage, medizinische Anstalten, jüdischer Friedhof, Schrebergärten und Kiesfabrik. Danach wird die Landes- zur Kantonsgrenze, die mitten durchs Freibad Bachgraben führt. Wenn einem dort früher das Portemonnaie gestohlen wurde, sei man zuerst gefragt worden, ob dies auf der Baselstädtischen oder der Basellandschaftlichen Seite geschehen sei, um die entsprechende Polizei zu informieren, erklärt eine Teilnehmerin. Abgesehen von solchen Anekdoten ist die Reise durch die Wohnquartiere Neubad und Gundeldingen, wo die Grenze stets dem Strassenverlauf folgt, eher eintönig. Immerhin bietet die baumbestandene Dorenbach-Promenade eine willkommene Abwechslung zum ständigen Gehen auf Asphalt. Die Grenze ist in diesem Bereich kaum wahrnehmbar. Die Stadt geht nahtlos in die eigenständigen Gemeinden Allschwil und Binningen über. Die damit verbundenen Komplikationen, etwa wenn sich zwei Ampeln in je unterschiedlichen Kantonen befinden, sind nur für Eingeweihte sichtbar.

Der dritte Abschnitt hebt sich von den anderen durch die Topografie ab. Nach dem Margarethenpark geht es urplötzlich aufwärts und es folgt ein ausgedehnter, kräftezehrender Schlenker um das gut situierte Bruderholz-Quartier herum – ein Umweg, den sie bestimmt nie mehr auf sich nehmen würde, bemerkt eine Teilnehmerin und unterstreicht damit den ungewöhnlichen Charakter der Reise. Nachdem wir uns kurzzeitig «verlaufen», weil die Grenze mitten durch eine Wohnparzelle führt, stossen wir auf ausgedehnte Felder, wo wir ungeschützt sind von der brütenden Sonne. Im südlichsten Zipfel der Stadt geht es zum ersten Mal querfeldein über den Acker, an einem weiteren Schrebergarten vorbei und zum Abstieg Richtung Dreispitz-Areal, das wir auf dem ausrangierten Gleisfeld durchschreiten. Bei der St. Jakobs Halle angelangt, betrachten wir die Absperrungen des Eurovision Song Contest, dessen Finale am Abend zuvor stattgefunden hat. Über dem Motto «United by Music» thront der Stacheldraht.

***

Eine Woche später setzen wir die zweite Etappe der „Tour de Bâle“ bei der St. Jakobs Halle fort. Der Sommer hat schlagartig in Aprilwetter umgeschlagen, aber der Regen stellt sich bereits während den ersten Metern entlang des Birsufers ein. Wie lange die Reise dauern wird, lasse sich nicht im vornherein sagen – und genau um diese Offenheit, um das Ausbrechen aus den alltäglichen Zeitzwängen gehe es auch bei der Initiative, appelliere ich an meine Reisegemeinschaft. Trotzdem ist es nicht überraschend, dass sich manche nach zwei bis drei Stunden bereits wieder verabschieden. Zu den Ausdauernden, die uns bis am Schluss begleiteten, gehört ein polnisches Architektenpaar, ein erprobter Baselbieter Banntägler sowie ein hartnäckiger Kern vertrauter Gesichter vom ersten Grenzgang.

Nach dem Birsköpfli verläuft die Grenze mitten im Rhein, weshalb wir die Schwarzwaldbrücke ins Kleinbasel nehmen und wieder hinab zum Rhein steigen. Es ist einer der reizvollsten Wege der Stadt, der seinen Charme nicht zuletzt dadurch gewinnt, dass wir nie ganz sicher sein können, ob er auch tatsächlich öffentlich ist. Der weitere Verlauf zum Kraftwerk ist jedoch abgesperrt – die Erosion der Böschung könne unser Leben gefährden, warnt ein Schild. Wir folgen deshalb der verkehrsreichen Strasse nach Grenzach und biegen kurz davor, entlang der Gemeindegrenze zu Riehen, in einen Schrebergarten ein. Dessen Absperrung lässt sich mit einem Handgriff öffnen; auf der anderen Seite stehen wir jedoch vor verschlossenen Toren, weshalb uns einer der wenigen Pächter, die an diesem Morgen ihre Gärtchen pflegen, zu Hilfe eilen muss. Es folgt ein labyrinthischer Pfad durch weitere Schrebergartenkolonien. Danach passieren wir Sportanalagen und Schulhäuser, durchqueren den Landsitz «Klein-Riehen» über einen Feldweg und gelangen in den Landschaftspark Lange Erlen.

Die viel kontrastreichere zweite Etappe durchs Kleinbasel unterscheidet sich von der ersten auch dadurch, dass wir uns nur sehr selten direkt auf der Grenze bewegen können. Ständig stossen wir auf Hindernisse, seien es unpassierbare Privatareale, Eisenbahnlinien oder Gewässer. Dies verleitet uns dazu, einen Weg durchs Dickicht einzuschlagen und zwingt uns anschliessend, bei den Brücken über den Fluss Wiese einmal mehr zwischen Abkürzung und Umweg zu entscheiden. Im Wald führt ein Vita Parcours direkt an der deutschen Grenze entlang, die sich als offener Acker präsentiert – ein krasser Gegensatz zu den hohen Betonwänden des angrenzenden Ausschaffungsgefängnisses Bässlergut. Nebenan versprüht ein Rosenbusch den süssen Duft des Sommers. Und als ob der Kontrast zu den von Stacheldraht gesäumten Mauern nicht markant genug wäre, erreicht uns die fröhliche Musik eines Kinderzirkus.

Im Anschluss an diese Widersprüche führt unser Weg unter einem Autobahnviadukt hindurch, das erhaben über unseren Köpfen thront. Wir sind im «Port of Switzerland» angelangt, wo wir uns fragen, ob der Name nicht an Grössenwahn grenzt. Um nicht in der Sackgasse der Grenzstrasse zu landen, wechseln wir auf die deutsche Seite. Dies gelingt uns ohne Widerstand und Kontrolle – nur ein paar in den Boden eingelassene Pflastersteine und ein Schild weisen uns daraufhin, dass wir eine Landesgrenze überschritten haben. Ein verlassenes, baufälliges Haus in dem Wohngebiet, das wir in Weil am Rhein passieren, weist daraufhin, dass Raumnot auf dieser Seite der Grenze kein Thema zu sein scheint.

Abermals passieren wir eine Zollstation sowie einen deutschen Konsumtempel für Schweizer Shopping-Touristen und über eine Fussgängerbrücke gelangen wir schlagartig in die vollkommen konträre Umgebung des Ostquai. Schlangen von besprayten Eisenbahnwagons, Lastkräne und das Lokal «Rostiger Anker» vermitteln einen Hauch von Industrieromantik. Im Gänsemarsch folgen wir einem schmalen Durchgang zwischen Gleisen und Hafenbecken. Mein Vorschlag, zur Vollständigkeit auch noch das Westquai bis zum Dreiländereck abzulaufen (und wieder zurück), scheitert am Widerstand der meisten Beteiligten, da sich langsam Erschöpfung abzeichnet. Folglich bewegen wir uns dem Rhein entlang nach Süden zur Landestelle, einem beliebten Zwischennutzungsareal im DIY-Look und atmen auf, als wir im letzten Moment doch noch eine offene Bar finden. (Die Kombination aus Sonntag und schlechtem Wetter lässt Basel leider allzu oft zur Provinzstadt verkommen.)

Zurück über die Dreirosenbrücke, vorbei am Novartis Campus, der nur unter der Woche passierbar ist, erreichen wir entkräftet aber zufrieden den Ausgangspunkt unserer Reise an der Tramhaltestelle St. Louis Grenze. In zwei Tagesmärschen und knapp 30 Kilometern sind wir die komplette Grenze der Stadt Basel abgeschritten. Was haben wir dabei gelernt?

Die Grenze ist als Verlauf meist unsichtbar. Allenfalls stolpert man mal über einen Grenzstein, aber eigentliche Grenzmarkierungen sind vielmehr bestimmte Orte, Gebäude und Institutionen, die typischerweise an Stadträndern zu finden sind und oft unvermittelt auftreten. Unangefochtener Spitzenreiter sind die Schrebergartenkolonien, die fast organisch in jedem noch so kleinen Grenzabschnitt spriessen. Des Weiteren haben wir erfahren, dass Grenzlinien unweigerlich zu Konflikten führen. Selbst in Friedenszeiten ringen die Behörden beider Parteien um Zuständigkeiten, Verantwortung, Finanzierung und Identität. Unabhängig von Territorium und politischer Ebene ist der Nachbarschaftsstreit vorprogrammiert.

Dahingegen fällt auf, dass sich die Stadt von ihren eigenen Grenzen nicht beeindrucken lassen hat; schon längst ist sie darüber hinausgewachsen – nach Frankreich, Deutschland und in den Nachbarkanton. Einen eigentlichen Bruch gibt es paradoxerweise an der innerkantonalen Gemeindegrenze zu Riehen. Hier trifft man auf eine grösstenteils unbebaute Zwischenzone, eine Art kultiviertes Niemandsland. Eigentliche Brachen, unbestimmte Gebiete – und das ist vielleicht die Haupterkenntnis – haben wir jedoch kaum angetroffen. Während andere Städte an den Rändern ausfransen, wirkt Basel bis auf den letzten Quadratmeter durchdefiniert. Eine Ausnahme finden wir lediglich in einem sich selbst überlassenen Gewächshaus an der deutschen Grenze – ein einsames Monument gegen die Schweizer Ordnungswut.

Die „Grenzgänge: Tour de Bâle“ fanden am 18. und 25. Mai 2025 als Initiative des Office for Peripatetic Design und in Kollaboration mit dem Lokal für Raumbegehung und Open House Basel statt.

Leave a comment

©2025 Patrick Düblin